
QiGong
mit Ralf Neuhaus
Im Schatten der Bewegung
In sich selbst ruhend, nur vom Lufthauch selbst erfasst, ist es ständig in Bewegung und ändert fließend seine Form: das kunstvolle Gebilde eines Mobiles. Nur mit der Form seiner Bewegungen, scheinbar ohne Kraft bewegt, verströmt es eine sinnliche Faszination. Im visuellen Sog dieses Phänomens führt die bloße Betrachtung schnell zur Meditation. Und plötzlich beginnt die Seele zu schwingen. Eine Fusion aus Sanftheit und einer treibenden Kraft. Die Poesie dieses, vom Wind bewegten Antriebes, ist Bild gewordene Partitur: die Beschreibung des Grundakkordes der Komposition von Bewegungen im QiGong.
Qi – die Lebensenergie bewegen
Aus der Mitte das Innen mit dem Außen verbinden
Die drei Elemente
Die Kraft der Wirkrichtung von QiGong-Bewegungen
Qi – die Lebensenergie bewegen
Im QiGong hat sich Gesetzmäßigkeit der Motorik von Bewegung über eine sehr lange Entwicklungsgeschichte bewährt, ist mit anderen Worten: tradierte Bewegungskultur. Die Bewegungen sind natürlich, leicht und fließend. Die im QiGong eingenommenen Körperhaltungen führen Bewegungsläufe aus, die bewusst, aber auch oft unbewusst, Dehnungsvorgänge auslösen. Diese Effekte beeinflussen die in Leitbahnen durch den Körper strömende Lebensenergie, chinesisch: Qi, positiv. Ebenso regen die Bewegungen die Körperflüssigkeiten, chinesisch: Xue, damit sind beispielsweise das Blut oder die Lymphe gemeint, an. Ebenso wird die Beweglichkeit der Gelenke und Muskeln verbessert.
Die Kraftfelder von Yin und Yang in der Bewegung erspüren
Eine Hauptrolle spielen Kreis-und Spiralbewegungen als Ausdruck der zyklischen Natur der Lebensprozesse. QiGong-Bewegungen können als ein Nachzeichnen der grundlegenden Naturgesetzmäßigkeiten des Wandels der polaren Kräfte Yin und Yang verstanden werden. Den Wechsel zwischen Yin und Yang ahmt man beispielsweise durch die Verlagerung des Körperschwerpunktes nach: Der belastete Fuß entspricht Yang, der unbelastete Yin. Auch in den Bewegungen der Hände lässt sich dieses Prinzip erkennen. Die nach vorne oder nach oben bewegte Hand ist dem Yang zugeordnet, die nach unten oder nach hinten geführte Hand dem Yin. Dieser flüssige Wechsel zwischen Belastung und Leere, zwischen Yin und Yang, ermöglicht erst den harmonischen und langsamen Bewegungsfluss des Körpers. Auch ohne äußere Einwirkungen und mit geringem Kraftaufwand kann sich so eine Dynamik entfalten.
Wirkrichtungen und gegensätzliche Kräfte im QiGong
Charakteristika dessen sind Begriffe, die Wirkrichtungen der Bewegungen beschreiben: Öffnen und Schließen, Sinken und Steigen, Entfalten und Verdichten, Bewegung und Ruhe, Weichheit und Härte, Einatmen und Ausatmen.
Bewegungen werden verinnerlicht
„Im QiGong hat jede äußere Bewegung auch zu jeder Zeit den Aspekt einer inneren Entsprechung", ist ein Leitsatz zum Verstehen des Prinzips von Bewegungen im QiGong.
Aus der Mitte heraus Innen und Außen verbinden
Die Bewegungen werden in der Vorstellung wie gegen einen sanften Widerstand ausgeführt, in einer Weise, als bewegte man sich in Wasser. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf die bewegten Körperareale gelenkt. Der Begriff
„Zentrum“ deutet eine Sammlung an, während mit „Polarität“ eine bewusst vorgestellte Gegenläufigkeit meint. Energetisch aufgespannt zwischen zwei Polen. Diese Formen der Vorstellung von Energien wirken wie Relais-Stationen der Bewegungsmotorik im QiGong.
Zwei Elemente sind hier von großer Bedeutung: Die gedankliche Zentrierung der „Mitte“ (chinesisch: Dantian) und die Verbindungsebene von „Innen“ und „Außen“. Das Fixieren des als Körpermitte empfundenen Bereiches „zwei Fingerbreit unter dem Nabel“ löst mehrere Effekte zugleich aus. Das Zentrieren der Gedanken auf diesen Bereich stehender, beständiger Modus während eines Großteils der Übungen. In der Folge der Übungspraxis wird das Gleichgewichtsgefühl enorm verbessert. Durch die Lenkung der Aufmerksamkeit in diesen Bereich wird auf Dauer eine Wahrnehmung des Bewahrens ausgelöst. Der Übende empfindet sich auch ganzkörperlich „in seiner Mitte“. Das Ausrichten der Konzentration und Aufmerksamkeit auf den Dantian führt im Laufe der Übungspraxis zur Auflösung möglicher permanenter Zirkulation von Gedanken. Die im Kopfbereich angesammelten Energien werden umgeleitet.
„Die Energien sind dort, wo die Gedanken sind“, ist eine in unsere Alltagssprache eingesunkene Diktion. Eine gelungene Beschreibung.
Die als einer der Ausgangspunkte von QiGong geltende Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) bezeichnet dies schon sehr lange mit einem Leitsatz: „Das Qi folgt dem Yi“, die (Lebens-)Energie folgt der Aufmerksamkeit. Das Pendeln zwischen dem „Innen“ und „Außen“, damit ist die Spiegelung vieler natürlicher Wandlungsformen unserer äußeren Welt in unserem Körperinneren gemeint, ist ein weiterer Teil der Bewegungsphilosophie von QiGong. Als einfaches von vielen möglichen Beispielen seien an dieser Stelle Kälte-und Hitzeempfindungen in unserem Körpersystem angeführt. In die Sprache der Bewegungsformen übergeleitet, ist an dieser Stelle die Sammlung, Entfaltung und Rückführung der Hände an die Ausgangsposition des Dantiens nennenswert.
Die drei Elemente
Das Prinzip von QiGong wird von drei Elementen getragen, die sich wechselseitig, in harmonischem Einklang, begleiten. So werden die Bewegungen von einer bewussten Atmung wie von der Vorstellungskraft (yi) angeleitet und getragen. Fehlen diese begleitenden Aspekte, werden die Bewegungen im QiGong als „leer“ bezeichnet. Die bloße Bewegung ist wohl spürbar, beispielsweise als Dehnungs- oder Muskelreiz, aber eine auf den Gesamtorganismus regulierende Wirkung, wird sie indes nicht oder nur in geringem Maße zu entfalten vermögen.
Die Übungen im QiGong werden langsam ausgeführt. Wieso ist das so? Die wichtige Verbindung von Aufmerksamkeit und der Lebensenergie Qi benötigt eine bestimmte Zeit an Entwicklung im Prozess des Übens. Das Prinzip von QiGong folgt einem holistischen Konzept, ein auf die Ganzheit des Körpers ausstrahlendes Prinzip. Dies spiegeln die Bewegungsformen. Die bewusst langsam ausgeführten Bewegungen streben diese Vollständigkeit an. So gilt: Sehr viele, möglichst alle Körperteile sollen in einen Übungszyklus einbezogen werden.
Eine weitere Entfaltung von QiGong ist die stetig-inkrementelle Wirkung. Im Laufe der regelmäßigen Übung entsteht Wachstum und Entwicklung, auf vielen Ebenen. So werden Geübte mit der Zeit die Bewegungen schneller und dynamischer ausführen, ohne die Bewusstheit in den Abläufen zu vernachlässigen. Doch dazu ist ein anderes, tief in die Philosophie der Bewegungskunst QiGong eingesunkene Prinzip notwendig, der Geduld. Die gilt insbesondere für den Beginn des Übens mit QiGong.
Wie ein mentales Scharnier zwischen der Vorstellungskraft (yi) und den einzelnen Bewegungen skizziert der Geist bildhafte Naturphänomene als Verbindung: ziehende Wolken, fließendes Wasser, wogende Ähren, schwingende Flügel von Kranichen.
Diese Bilder sind entweder in den Übungsbezeichnungen enthalten oder sie werden mittels der Vorstellungskraft als bildhafte Vorstellung in die Übung mit einbezogen.
Die Kraft der Wirkrichtung von QiGong-Bewegungen
Die Bewegungsmuster im QiGong haben vier grundlegende Wirkrichtungen:
- Steigen und Sinken
- Öffnen (Entfalten)und Schließen (Verdichten)
Die Bewegungen finden sich in sehr vielen unterschiedlichen Ausdrucksformen von QiGong-Übungen wieder, aber immer mit der Intention der Entfaltung der gewünschten Wirkung.
Die von mir unterrichteten QiGong-Formen intendieren gesundheitliche und energiemedizinische Aspekte. Das Anleiten der Übungen im Sinne korrekter Ausdrucksformen ist insbesondere für eine therapeutische Anwendung des QiGongs vor dem Hintergrund der chinesischen Medizin von großer Bedeutung: Durch die bewusste Betonung der einzelnen Wirkrichtungen können spürbare positive gesundheitliche Effekte erzielt werden.
Ein Beispiel: Durch eine Betonung der schließenden Elemente, also das bewusste Zurückführen der Hände zur Körpermitte sowie durch kleinere Arm- oder Schrittbewegungen, kann man Qi zuführen oder stützen, was vor allem bei energetischer Schwäche des Qi angezeigt ist. Dabei umfasst das Schließen auch die Vorstellung vom Bewahren, Nähren und Sammeln der eigenen Kräfte, die für QiGong-Übungen essenziell sind.
Bewegung und Ruhe gehören zusammen. In jeder QiGong-Übung verbinden sich idealerweise Ruhe und Bewegungen energetisch miteinander.
- Bewegung hat zwei Aspekte: die äußere Bewegung des Körpers und die innere Bewegung der Lebensenergie Qi.
- Ruhe hat ebenfalls zwei Aspekte: den äußerlichen Ruhezustand und die innere Ruhe des Geistes.
Das Ziel von QiGong ist die Förderung von körperlichen, geistigen und seelischen Funktionen im Menschen. Gemeint sind damit die Weiterentwicklung von Körpergefühl und das Schaffen einer Klarheit und Wachheit des Geistes. QiGong als Therapieform betrachtet besonders den Aspekt der Bewegung.
In der chinesischen Medizin ist QiGong als eine Form von Heilgymnastik anerkannt. Das fernöstliche Medizinprinzip definiert Krankheiten als Störungen im Bewegungsfluss und Heilungsprozesse als Wiederherstellung harmonischer Bewegungen. Von Störungen befreite Bewegungen im Leben an sich und harmonische wie leichte Bewegungen des Körpers entfalten sich am besten bei innerer, geistiger Ruhe.
„Die Ruhe sucht Bewegung, wie die Bewegung die Ruhe sucht“ – dies könnte auch als das Ausgangsprinzip des Wunders an Bewegung unseres Mobiles verstanden werden.
Quellen:
Gelesen im Buch „Leitfaden QiGong: Gesundheitsfördernde therapeutische Übungen der chinesichen Medizin (2014)“, 2. Auflage, Autoren. U. Engelhardt, G. Hildenbrand, C. Zumfelde-Hüneburg;
Gelesen im Buch „QiGong Yangsheng. Gesundheitsfördernde Übungen der Traditionellen Chinesischen Medizin (2013)“, 8. Auflage, Autor: Jiao Guorui; Aufzeichnungen im Unterricht zur Ausbildung zum QiGong-Kursleiter in der Zeit vom März 2020 bis April 2022, Ausbildungsinstitut: Shen-Men-Institut Düsseldorf, Ausbilder: Dr. Christoph Stumpe