QiGong
mit Ralf Neuhaus

Mit der Kraft der Vorstellung

 

 

Imaginationen und Visualisierungen können Aufmerksamkeiten bündeln. Die Anverwandlung von Natur kann dabei wie ein Brennglas wirken. Die Kräfte müssen nicht unbedingt solche Formen annehmen wie bei Meister Yoda, dem Jedi-Meister aus Star Wars. George Lucas, der Autor der epischen Film-Saga ließ Meister Yoda mit der bloßen Vorstellungskraft ein havariertes Raumschiff aus einem Sumpf ziehen. Sicher, die Szene ist cineastisch aufgeladen, und sie deutet den legendenumwobenen Entwicklungsfaden der Erzählung an: die Force. Mit ein wenig Fantasie können wir diesen Begriff heute cum grano salis nehmen: Wenn wir in regelmäßigen Übungen das Schwingen der Flügel eines Kranichs imitieren, fließt das Gefühl des leichten Dahinschwebens des eleganten Vogels an einem bestimmten Punkt in uns selbst ein.

 

 

Yi – die lenkende Kraft

 

Stimmungen aktivieren – Gedanke, Vorstellung, Aufmerksamkeit und Intention

 

Gesund stehen lernen

 

Kurz zusammengefasst

 

 

Yi – die lenkende Kraft

Im Zusammenwirken der Übungselemente, die sich im QiGong verbinden, ist die Vorstellungskraft, (chinesisch: yi ) eine leitende Kraft. An diesem zentralen Punkt weist das System von Bewegungen im QiGong einen deutlichen Unterschied zu anderen Formen von Bewegungen im Sport aus. Dies wird im Besonderen in den Standpositionen „Stehen-wie-eine-Kiefer“ oder dem "Reiter-Stand" deutlich: Gerade in den Übungen ohne äußerlich erkennbare Bewegungen sind es die geistigen Aktivitäten, die den besonderen, inneren Zustand adressieren. In den fernöstlichen Bewegungskünsten wird die Ruhe oder Stille nicht als absolut, sondern als relativ bezeichnet. Selbst wenn der äußerliche Körper Stillstand anzeigt, gibt es ein Universum im Innern, das sich bewegt: Atmungsverläufe, ein Kribbeln an bestimmten Körperpunkten wie Fingerspitzen oder Fußzehen, das Sammeln von Speichel, das Entstehen lokaler Wärmefelder im Körper. In unsere Alltagssprache eingesunkene Diktionen wie „Stillstand-bedeutet-Rückschritt“ wirken vor dieser Erkenntnis eher befremdend und unverständlich.

 

Um die geistigen Kräfte und Aktivitäten während des Übens im QiGong zu beschreiben, ist vor allem die Vorstellungskraft (yi) näher zu betrachten. Das chinesische Zeichen yi besteht aus den Bestandteilen „Herz“ und „Klang/Laut“ und kann somit als „ Klang des Herzens “ interpretiert werden.

 

Stimmungen aktivieren – Gedanke, Vorstellung, Aufmerksamkeit, Intention

Der Begriff der Vorstellungskraft im Qigong hat mehrere Bedeutungen: Gedanke, Vorstellung, Aufmerksamkeit oder Intention. Diese Begriffe sind Partituren in der Komposition des Spiels mit der Vorstellungskraft von QiGong.

 

Ausgangspunkt ist das bewusste Aktivieren von Stimmungen und Kräften durch Vorstellungsbilder. Das spezifische Wesen dieser Vorstellung ist das Evozieren innerer und äußerer Bilder, mit deren Hilfe unsere Aufmerksamkeit gezielt über Bahnen in bestimmte Körperbereiche gelenkt wird. Diese Energiebahnen sind die den Körper durchlaufenden Meridiansysteme. Sind dem Übenden die Verläufe der Meridiane im Körper noch nicht vertraut, reicht zunächst auch die Vorstellung, Energien beispielsweise von den Füßen über die Rückseite der Beine zum Becken zu lenken.

 

Im Kern adressiert der Begriff der Vorstellungskraft folgendes: Unsere Fähigkeit von Imagination und Visualisierung zu Abstraktionen von Bildern aus der Natur. Diese Beschreibung führt direkt zum Quellgrund der Bewegungskunst von QiGong. In einer antiken fernöstlichen Welt ist QiGong aus der reinen Beobachtung von Naturphänomenen entstanden. Diese Welt kannte noch keine digitalen Bilderstürme, wie wir sie heute täglich erleben. Die semantischen Relikte dieser, aus sinnlichen Wahrnehmungen gespeisten Zeit, sind heute noch überlieferte Bezeichnungen bestimmter QiGong-Übungen mit Namensgebungen wie „Der-weiße-Kranich-zeigt-seine-Schwingen“.

 

Ein essentieller Wirkfaktor des Sich-Vorgestellten ist sein Symbolgehalt. Die gelenkten Vorstellungen schließen den bewussten Atemstrom und die sanften Bewegungen zur inneren Bildung von Assoziationen ein. Symbolhaft gewordene Bilder in der jahrhundertealten Praxis von QiGong sind zum Beispiel der Baum und die Wurzel.

 

In der emblematischen Kulturtradition im QiGong assoziieren Praktizierende in ihrer Vorstellung bei der Basis-Übung „Stehen-wie eine-Kiefer“ die Wurzeln und den Stamm des Baumes mit Stabilität und Ruhe; die vom Wind bewegten Äste und Blätter, hingegen mit Flexibilität, Bewegung und Wachstum. Ruhende Kraft und Stabilität als komplementäre Eigenschaften zur Leichtigkeit der Aufrichtung und der Kraft des sich ausdehnenden Wachstums.

 

Trotz der zentralen Bedeutung der Vorstellungskraft (yi) sind Formen von Übertreibungen zu vermeiden. Wenn ein Übender beispielsweise zu teils erzwungenen, teils überdehnten Assoziationen oder zu einer überstärkten Deutung von Vorstellungsbildern neigt, ist es angezeigt, die Rolle der Vorstellungskraft neu zu justieren. Übertreibungen jeglicher Art befinden sich nicht im Einklang mit dem Grundprinzip der natürlichen Harmonie im QiGong.
 

 

 

Gesund stehen lernen

Traditionelle Stand-Übungen des QiGong wie „Stehen-wie-eine-Kiefer“, oder der „Reiter-Stand“ steuern das bewusste Lenken von Energien und das Ausleiten möglicher pathologischer Belastungen an. Diese Intentionen sind sehr alt und inzwischenn wissenschaftlich gut dokumentiert. Diese Praxis verweist auf die bereits frühen energiemedizinischen Kenntnisse bei der Entstehung von QiGong. Sie ist ein wichtiger Bestandteil meines Unterrichts.
 

 

Das Zentrieren und Bewahren der Aufmerksamkeit 

Das Wesen der Übungen ist nicht nur das bloße, idealerweise korrekte physische Stehen, sondern die Absicht des Spürens der Lebensenergie Qi im unteren Sammelpunkt: das so genannte Dantian, etwa zwei Finger unterhalb des Nabels.

Diese Fixierung auf eine Mitte wird von der Wahrnehmung des Atemstroms zu diesem Punkt begleitet. Die tiefe Atmung wird automatisiert, das Zwerchfell aktiviert. Das sanfte Ausatmen wird unbemerkt länger als der Prozess des Einatmens.

 

Das "Entschleunigte Atmen"

Diese ruhige, von dem beruhigenden Strom der Ausatmung getragene Atmung wirkt auf den für Ruhephasen wichtigen parasympathischen Teil des autonomen Nervensystems. Die angepasste Körperhaltung, beispielsweise des "Reiter-Stands" fördert das freie Fließen der Qi-Energie im Körper. Weitere physiologische Effekte sind das Entspannen der Gelenke, im fortgeschrittenen Stadium auch der Muskeln und die Reduktion der Hautleitfähigkeit - man schwitzt weniger. Das allmähliche Loslassen von Spannungen im Körper und Geist fördert zunehmend die Entspannung. Diese begleitenden positiven Phänomene erleichtern die Fixierung auf die Mitte, das Erspüren eines Körpertiefenpunktes mit dem Ziel, eine Wohlspannung zu empfinden und diese immer weiter zu konservieren.

 

In der Position des "Reiter-Standes" wird mit der Vorstellungskraft die Aufmerksamkeit bewusst gelenkt. Um die geistige Ausrichtung auf Ruhe, Stille, Entspannung oder Zuversicht zu lenken, werden Bilder im Geiste mit diesen Begriffen verknüpft. Ein Stein, Blätter, die sanft vom Wind bewegt werden oder eine Baumreihe auf einem sanft geschwungenem Hügel.


Der Mythos der "Absoluten Ruhe"

Mit Ruhe ist nicht die absolute Ruhe gemeint, sondern ein besonderer Zustand von Bewegung. Phasen der Ruhe haben immer auch einen Aspekt von Bewegung, und umgekehrt. Beim "Reiter-Stand" können wir diese Beschreibung mit dem Bild verknüpfen, dass beim Übenden äußerlich eine Unbewegtheit in der Position wahrzunehmen ist, im Innern indes bewegt sich der Atem, der vom Übenden bewusst im Geiste begleitet wird. Ebenso wirkt beim "Reiter-Stand" eine schnelle Entspannungsreaktion. Diese Empfindungszustand  ist weder mit Begriffen von "weich" oder "schlaff" zu beschreiben, sondern als eine Haltung innerer Festigkeit. 

 

So schließt die sehr alte Kulturtechnik der Imitation von Natur das Prinzip der Kreislaufbewegung aus Bewegung, Atmung und Bewusstheit als Lenkung der Vorstellung.

 

Kurz zusammengefasst

Im Wesentlichen lassen sich vier Kategorien unterscheiden:

  • Das bewahren der Vorstellungskraft (yi) in Körperregionen, wie den Energiezentrum Dantien.
  • Das fixieren der Aufmerksamkeit auf reale Dinge, idealerweise skulptural wirkendes: eine Buddha-Figur, ein Stein oder ein Baum.
  • Das Sich-Anverwandeln (eine Resonanz entwickeln) von Dingen oder Begebenheiten: Assoziationen mit Wurzeln (mit der Vorstellung von "fest"), die Erde ("nährend"), der Berg ("ruhig und stabil") oder Flügelschlag des Kranichs ("leicht, tragend und ästhetisch").
  • Das Ausrichten der Vorstellungskraft (yi ) auf die Bedeutung von Dingen, Wörtern oder Tönen: Das Entstehen-Lassen neuer Bedeutungskräfte durch die Klarheit des Geistes in der meditativen Haltung der Ruhe. Die ohnehin abstarkte "absolute Ruhe" wird ersetzt: Beispielsweise durch die Wahrnehmung eines besonderen Zustandes von Bewegung, einer Standposition, eines Lautes wie das Strömen des Atems durch die Nase oder eines Summens.

 

 

Quellen
Gelesen im Buch „Leitfaden QiGong (2014)“ 2.Auflage, Autoren: U.Engelhardt, H. Hildenbrand, C. Zumfelde-Hüneburg;
Gelesen im Buch „Langsamer Atmen, besser leben – Eine Anleitung zur Stressbewältigung“ (2019), Autor: Thomas H. Loew; im September 2021
gelesen in einer Ausarbeitung zum Thema „QiGong – Stehen wie ein Baum“, Autorin: Ulla Blum