"Stehen wie ein Baum"

 

Ralf Neuhaus übt am Abend

Naturphänomene studieren

Das Entstehen fernöstlicher Bewegungskünste verdankt seine frühe Entwicklung zu großen Teilen der Beobachtung von Naturphänomenen. Der Baum ist seit tausenden von Jahren ein mythologischer Rohstoff für Symbolik vieler unterschiedlicher Kulturen, weit verteilt über unseren Planeten. Er steht auch direkt am Quellgrund der Bewegungskunst von QiGong, als stiller Lehrer, Inspirator und Bildprogramm der Vorstellungskraft von Meister und Übenden dieser Bewegungskunst.

Im QiGong wird die Baum-Übung für mehrere Aspekte eingesetzt: Zur allgemeinen Kräftigung und zur Prophylaxe von möglichen Krankheiten. Gelingt es den Übenden die Bewegungen, den Atem in Verbindung mit der Vorstellungskraft zur Fusion zu bringen, ist es möglich, negative Energien auszuleiten. Ebenso können Mangelzustände und organische Störungen positiv beeinflusst werden. „ Stehen-wie-ein-Baum “ ist eine ideale Übungsform, um Stress, Anspannungszustände und andere psychosomatische Störungen zu regulieren. „ Stehen-wie-ein-Baum “ differeriert sehr stark zum gewöhnlichen Stehen im Alltag, in der Anschauung und im Erleben. Die Standposition ist komplex und erfordert vom Übenden eine innere Haltung, etwas „durchzustehen“ oder etwas „zu bestehen“.
Das „Stehen“ im QiGong ist eine Basis-Übung, die selbst Meister dieser Bewegungskunst täglich üben, ihr gesamtes Leben. Das Entrée zu dieser Übung ist eine geöffnete Tür: Das Praktizieren beansprucht wenig Platz, die Übung ist ohne großen Aufwand in den Alltagsablauf integrierbar. Empfehlenswert indes ist das Erlernen unter der Anleitung eines erfahrenden Lehrers. Mit dessen Unterstützung ist die Übung in Schritten und mit Geduld zu erlernen. Das Erreichen der Tiefenstrukturen der Übung, die uns den Zugang zu innerer Ruhe, einem klaren Geist und zur umfassenden körperlichen und seelischen Harmonisierung führt, benötigt Zeit. Gibt sich der Übende diese Zeit, wird QiGong ein sehr wirksames Mittel und eine Begleitung gegen die unliebsamen Phänomene unserer modernen Zeit sein: gegen Hektik, Stress, Überreizung und Impulsflut.

 

Eine Skizze des Stehens im QiGong: Der Reiter-Stand
Die Statik des Standes sollte immer wieder in abtastenden gedanklichen Schritten durchdekliniert werden, bis sie sich internalisiert und automatisiert hat.

Die Füße stehen etwa schulterbreit, parallel, die Knie sind leicht gebeugt. Sind die Knie durchgedrückt, verhindern wir die entspannte Bauchatmung. Beide Füße werden gleichzeitig belastet. In der Vorstellung sind die Gelenke des Fußes, des Knies, des Beckens und der Schulter und Hände mit Federn versehen. Das Becken hat eine nach innen <schließende> Kraft, mit der auch der untere Bauch ein wenig eingehalten wird. So entwickelt sich eine nach hinten <sitzende> Kraft. Das Steißbein hat eine Tendenz in Richtung Erde. In dieser Haltung bilden die Beine zusammen mit dem Steiß eine Dreieckskraft, die den gesamten unteren Körperbereich „sitzend“ entspannen kann. Der Lenden-Kreuzbeinbereich ist gerade, oder relativ gerade. Die Haltung zum Hohlkreuz löst sich auf und führt zu einer gesunden Wirbelsäulenposition.
Die Standposition hat einen gleichermaßen nach oben wie nach unten gerichteten Bewegungspfeil. Dabei hilft die Vorstellung des Einsinkens der Füße bis zum Knöchel in die Erde. Im Bereich oberhalb des Beckens ist die Bewegungstendenz nach oben gerichtet. Die Brust sinkt eine wenig ein, die Schultern haben eine hängende, leicht umwickelnde Kraft nach vorne, das Kinn neigt sich leicht zum Brustbein. Dadurch hebt sich der Nacken leicht und entspannt sich zugleich. Kopf und Blick sind gerade nach vorne gerichtet. Entweder schaut man mit entspannten Augen in die Ferne oder schließt die Augen und richtet den Blick nach innen. Die Zentralachse des Körpers wird als Faden imaginiert, der aus der Kopfmitte den Körper verlässt und den Kopf sanft nach oben zieht. Der Mund ist entspannt und geschlossen, die Zunge liegt natürlich im Mundraum. Der Atem fließt durch die Nase ein und aus oder durch die Nase ein und den Mund aus. Dich Achseln sind leer indem sich die Ellbogen seitlich ein wenig öffnen. Die Unterarme hängen, die Handgelenke sind entspannt, die Hände werden einander zugewandt und die Finger sind leicht wie Federn eines Vogels gespreizt.
Das Prinzip des Reiterstandes ist kurz umfasst: Unten, bis zum Becken, ist die Körperstruktur fest; ab dem Becken ist sie leicht: ist der Rücken lang, der Kopf wird sanft nach oben gezogen. Als Bildprogramm codiert, lassen wir in unserer Vorstellung und unserem Empfinden unsere Wurzeln wachsen, kräftigen unsere Beine. Das Wachstum der der innenliegenden und äußeren Muskeln entsteht über die Permanenz des Stehens, die Durchlässigkeit der Energie fördert die Leichtigkeit des Stehens und die gelockerten Gelenke.  Wir leiten ebenso verbrauchte Lebensenergie Qi ab, wie wir neue Energie aus dem Element der Erde empfangen und verbinden sie mit den Kräften des Himmels, die um uns zirkulierende Energie, das uns umgebende Qi. Es ist das Prinzip des Baumes, dessen Wurzeln die Nährstoffe der Erde ansaugen, sie in den Stamm leiten, während die Blätter die Energie der Sonne und des Windes aufnehmen. Die Energien der Polaritäten verbinden sich im Innern des Baumes und lassen ihn wachsen.


Quellen
Gelesen im September 2021 in der Ausarbeitung „QiGong – „Stehen wie ein Baum“, 2019, Autorin: Ulla Blum, Berlin

 

 

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